Mut zum freien Journalismus

Mut-Journalismus und kritische Journalisten

unser Leitfaden


Warum unser Berufsstand jetzt wichtiger ist denn je. Abstract: Hat die Profession, die wir „Journalismus“ nennen, überhaupt noch eine Zukunft? Es wird Zeit, dass Journalisten endlich wieder die ihnen übertragene Wächterfunktion wahrnehmen. Kritischer Journalismus stellt Machtstrukturen in Frage. Dieser Beitrag fordert einen den Werten der Aufklärung verpflichteten, verantworteten Journalismus.


In den Diskussionen über die Zukunft des Journalismus und den teils überschwänglich vorgetragenen Forderungen nach einer Neuerfindung des Journalismus wird eines gern vergessen: Die Krise des Journalismus ist zunächst einmal eine Krise journalistischer Persönlichkeiten. Und die hat viele Aspekte.


Journalistische Persönlichkeiten sind rar geworden. Stattdessen ist eine weit reichende Haltungslosigkeit und Gedankenlosigkeit immer öfter anzutreffen. Wer ohne Haltung vor sich hin sendet oder Seiten mit beliebigen Inhalten füllt, verfolgt natürlich keine journalistische Intention. Wer keine journalistische Intention verfolgt, kann seine Leser, Hörer oder Zuschauer weder begeistern noch herausfordern.


Journalismus bedarf der wohl begründeten Haltung des Journalisten

Wer keine journalistische Intention verfolgt, eckt allerdings auch nicht an. Kein Politiker oder Ministerialer, kein (beamteter) Mandatsträger oder Lobbyist, kein Unternehmer oder Interessenvertreter wird gegen inhaltsneutral agierende Journalisten vorgehen, wohl aber gegen Autoren, die ihre journalistischen Intentionen – vielleicht sogar mit Wucht – vortragen.

Das Unangenehme am kritischen Journalismus sei, dass er auch im Nachhinein viel Arbeit mache, argumentierte kürzlich die Führungskraft eines TV-Senders. Unterlassungsbegehren, Ermittlungen wegen Geheimnisverrats oder aufgrund politischen Drucks vorgetragene Rechtfertigungsanfragen beanspruchen natürlich Ressourcen. Weder Medienhäuser, noch Verlage, noch Rundfunkanstalten wollen diese unangenehmen Konsequenzen ernsthafter journalistischer Arbeit in Kauf nehmen.

In der Folge haben wir es immer öfter mit Journalistendarstellern zu tun, die entweder gnadenlos frisch vom Teleprompter ablesen können oder zumindest die zehn wichtigsten Buzzwords aus dem Medien-Bingo in jede Moderation und jede Diskussion einstreuen können.


Schreiben und Senden in jede Richtung ist dann für viele Kollegen kein Mangel an Haltung, sondern eben schlicht der Job. Sie legen sich selbst keine Rechenschaft über ihr Tun ab. Deshalb brauchen wir wieder eine verstärkte berufsethische Reflexion und nicht nur Sonntagsreden darüber. Und wir brauchen wieder journalistische Bildung, die Ziele verfolgt und nicht nur Zwecke. Vor allen Dingen aber brauchen wir journalistische Persönlichkeiten, Typen, die anecken. Sonst werden wir diese Krise des Journalismus nicht überwinden.


Unter den Journalisten muss wieder die Leidenschaft für gründliches Denken geweckt werden. Denn in unserem Gewerbe wird nicht nur zu wenig gedacht, sondern vor allen Dingen zu wenig systematisch gedacht, und es wird häufig nicht redlich gedacht.

Oftmals ist festzustellen, dass Denkende hochgradig unerwünscht sind. Beginnen die gar noch mit einer berufsethischen Reflexion, und wird diese Reflexion vom Leser, Hörer oder Zuschauer vorgenommen, dann wird sie nicht selten bekämpft. Ein paar moralische Betrachtungen, bitte eher oberflächlich, bleiben dann für die Sonntagsrede.

Im journalistischen Alltag findet ethisches Nachdenken nicht mehr statt. „Denken wird ja im allgemeinen überschätzt“, sagte kürzlich ein CvD, und das war nicht nur spaßhaft gemeint. Daraus resultiert auch die so häufig anzutreffende Haltungslosigkeit in diesem Beruf. Wir Journalisten haben die Krise mit verursacht.


Journalisten legen sich selbst keine Rechenschaft über ihr Tun ab. Die Folge ist ein besinnungsloses Schreiben. Typen mit Haltung, journalistische Persönlichkeiten fehlen deshalb in unserer Zeit. Spreche ich – auch im Journalistenverband – über journalistische Bildung, die Ziele hat und nicht nur Zwecke verfolgt, ernte ich ungläubiges Staunen.

Dieser Beruf ist also aus identifizierbaren Gründen in einer ernsten Krise. Und diese Krise haben wir Journalisten mit verursacht. Wir können sie nur dann überwinden, wenn wir diese Ursachen auch in den Blick nehmen. Wir müssen unser Kanzeldenken aufgeben zugunsten der Diskussion und Begegnung mit dem Leser, Hörer, Zuschauer auf Augenhöhe. Wir müssen die fachlichen und methodischen Defizite angehen. Und da haben wir viel zu tun.


Viele Journalisten recherchieren nicht mehr, weil sie damit überfordert sind. Andere weigern sich, forensische Methoden für die Recherche zu lernen. Die berufsethische Reflexion fehlt weitgehend.


Die Krise des Journalismus auch als persönliches Versagen zu begreifen, weisen die meisten weit von sich. Sie haben sich im journalistischen Mainstream bequem eingerichtet und wollen auf gar keinen Fall anecken, sondern einfach ohne größere Kraftanstrengung durch den Arbeitsalltag kommen und teilweise mit dem Mainstream Erfolg haben. Diese Situation kann ich natürlich nur sehr zurückhaltend kritisieren, wenn ich sie ändern will.


Das muss vermittelnd geschehen. Sonst erschrecken die Menschen. Und Journalistinnen und Journalisten sind nach meiner Erfahrung besonders leicht zu erschrecken. Wir müssen uns also verständigen über den Zustand des Journalismus im Zeitalter seiner Wertlosigkeit. Journalismus wird von vielen nicht mehr als wertvoll empfunden, weil er Werte-los geworden ist. Zu viele Journalistendarsteller und Medienagenten haben sich von der Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit als dem grundlegenden Wert in diesem Beruf verabschiedet.


Als Ursachen der Krise des Journalismus werden gern wirtschaftliche angeführt. Doch das greift viel zu kurz. Natürlich verschärfen die ökonomischen Konsequenzen der Strukturänderungen in der gesellschaftlichen Kommunikation die krisenhaften Erscheinungen im Journalismus.


Glaubwürdigkeit und Suche nach Wahrheit hängen zusammen

Das Bedürfnis nach sauber recherchierten und gut gemachten Geschichten ist groß. In zahlreichen Diskussionen mit Hörern und Zuschauern werde ich damit immer wieder konfrontiert. Aber unsere Leser, Hörer und Zuschauer wollen auch immer stärker wissen, wie eine Geschichte zustande gekommen ist, welches Ausgangsmaterial für diese Geschichte den Journalisten zur Verfügung stand, wie die einzelnen Rechercheschritte ausgesehen haben. Hier müssen wir transparenter arbeiten, natürlich unter Wahrung aller Anforderungen, die der Informantenschutz an die journalistische Arbeit stellt.

Keine Frage, der aufgeklärte und mündige Mediennutzer bleibt ein Leitbild. Doch der Anteil der mündigen Leser, Hörer und Zuschauer ist gar nicht so klein, wie wir immer denken. Es ist eine gleichwohl oftmals schweigsame Minderheit. Aber diese Minderheit wächst.


Diese Mediennutzer verlangen von Journalisten eine wertorientierte Ausübung ihres Berufs, bei der die Wertebasis deutlich kommuniziert wird. Der Journalist muss bereit sein, sich für seine Wertorientierung zu verantworten. Das aber setzt eine Wertorientierung voraus, die bei zu vielen Kollegen fehlt. Und dieser Dialog mit den Mediennutzern setzt einen aufklärenden und aufgeklärten Journalismus voraus. Nur dann kann die Kommunikation mit den Mediennutzern auf Augenhöhe gelingen.

Doch diese Art, Journalismus als Dienstleistung für die Bürger des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats zu sehen, ist einfach nicht en vogue. Content Marketing als journalistische Dienstleistung, die Ablösung journalistischer Angebote durch Formate der Dauerbespaßung oder das besinnungslose Nachschreiben vorgegebener Stereotype politisch-gesellschaftlicher Herrschaftsnarrative sind an ihre Stelle getreten.


Das hat unser Gewerk in eine sehr ernste Glaubwürdigkeitskrise gebracht. Doch statt zu reflektieren, dass Glaubwürdigkeit mit der Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit und mit dem Auftrag der Aufklärung zu tun hat, belassen wir Journalisten es bei Ausflüchten, warum wir unsere Arbeit nicht mehr ernst nehmen oder ernst nehmen können und wollen. Und damit verlieren wir noch stärker an Glaubwürdigkeit.


Um eine Wahrheit können wir uns nicht herummogeln: Niemand will oder braucht Wertlosen Journalismus. Einen den noch immer gültigen Werten der Aufklärung verpflichteten Journalismus zu betreiben, ist mühsam. Aber es ist aller Mühen wert.

Denn in der Krise befindet sich in erster Linie der sogenannte journalistische Mainstream. Den üben Kolleginnen und Kollegen aus, die ihre Arbeit in den Dienst einer journalistisch verbrämten Politik stellen oder ihn in erster Linie zu Zwecken des Selbstmarketings betreiben. In beiden Fällen handelt es sich um Sonderformen eines anwaltschaftlichen Journalismus. Und dieser anwaltliche Journalismus gebiert eine Attitüde der Selbstdarstellung, die dann die Geschichte völlig hinter die Person des Journalisten treten lässt. Damit werden aus Journalisten Journalistendarsteller.


Das Luftblasen wird zur journalistischen Tugend

Der Journalist müsse zur Marke werden, lautet eine dieser neudeutschen Forderungen. Journalistische Persönlichkeiten seien unverkäuflich, weil von gestern. Aber Selbstmarketing sei die zentrale Aufgabe, der sich Journalisten stellen müssten. Nun gut, es gab immer Aufschneider, die viel Luft produziert und in die Medienwelt geblasen haben. Die sollen jetzt ihre offiziellen Weihen bekommen. Das Luftblasen wird zur neuen journalistischen Tugend, und damit gehen die Verpflichtung zur Wahrheit, Recherchekompetenzen und stilistische Fähigkeiten den Bach runter.


Der neue Journalismus, so wird mir versichert, brauche alle diese hoffnungslos veralteten Werte nicht mehr. Mittlerweile besuche ich schon keine Konferenzen zum Thema journalistischer Bildung mehr, weil ich das dort veranstaltete Bullshit-Bingo einfach nicht mehr ertrage.


Im Journalismus zählt allzu oft Wahrheit nicht mehr, sondern nur noch die ahnungslose Selbstinszenierung. Damit machen wir Journalisten uns überflüssig, weil wir unserem gesellschaftlichen Auftrag nicht mehr nachkommen. Vor allen Dingen die offen zelebrierte Ahnungslosigkeit als neue journalistische Tugend ist einfach nur noch entsetzlich.


Wir brauchen eine gute handwerkliche und systematische Aus- und Fortbildung von Journalistinnen und Journalisten. Diese muss sich an den entwickelten berufsethischen Regeln, Darstellungsformen, Recherchetechniken und Präsentationsformen orientieren und diese weiterentwickeln. Semi-Ausbildungen zu Bindestrich-Journalisten (Drohnen-Journalismus, Social-Media-Journalismus, Daten-Journalismus, Investigativ-Journalismus, Breaking-News-Journalismus, Lifestyle-Journalismus und wie diese Halbheiten alle heißen) helfen da nicht viel weiter. Denn dort werden die journalistischen Grundlagen nicht vermittelt, sondern Schaumkrönchen. Wer mit diesem Schaumkrönchenwissen in eine Live-Situation geht, wird scheitern.

Natürlich ist nichts gegen ein zum Beispiel datenjournalistisches Fortbildungsseminar einzuwenden. Wer aber meint, damit journalistisches Grundlagenwissen ersetzen zu können, der irrt.


Dummerweise werden auch in solchen Bindestrich-Fortbildungen oftmals nicht einmal die für diese den Journalismus ergänzende Disziplin notwendigen Grundlagen vermittelt. Wenn ein Kollege von einem Seminar über Datenjournalismus zurückkommt und weder Graphentechnologie auf ein umfängliches Rechercheprojekt anwenden kann noch weiß, was es mit der Gaußschen Normalverteilung auf sich hat, stattdessen aber jede datenjournalistische Bullshit-Bingo-Runde mit den entsprechenden Hashtags versorgen kann, war das für ihn und die Redaktion verlorene Zeit.


Bindestrich-Journalismen entwerten den Beruf

Ein Seminar zur Vermittlung von Social-Media-Souveränität in Breaking-News-Situationen hilft nur dann weiter, wenn das klare Wissen um die klassischen Nachrichtenfaktoren, die Kreuzrecherche dazu und die – in berufsethischer Hinsicht – saubere Präsentation vorhanden ist. Auch wenn der innovative New-Media-Zeitgeist das ziemlich retro findet.

Auf der anderen Seite kommen aus genau dieser Ecke die Wehklagen, und es wird ohne Ende lamentiert, dass unser Gewerbe ein aussterbendes sei. Gefordert wird dann mal eben ganz flott, die journalistische Tätigkeit als gemeinnützige im steuerrechtlichen Sinne anzuerkennen, und einige wollen den Journalismus herrlichen crossmedialen Zeiten entgegenführen, ohne genau zu sagen, was sie sich darunter vorstellen.


Das Geheule ist nicht neu, aber nach wie vor furchtbar. Neue Finanzierungsmodelle, neue Formen der Zugangsbeschränkung in diesen einst freiesten aller Berufe, von neuen Journalismen wird geraunt, die die alte, verstaubte, aus den Zeiten des Print und des Rundfunks stammende Profession ablösen wird.


Die Zukunft des Journalismus liegt dann wahlweise im Drohnen-Journalismus, im Daten-Journalismus oder im Roboter-Journalismus. Neue Studiengänge entstehen, die die Zukunft des Journalismus abzusichern vorgeben, aber eigentlich nur die Segmentierungstheorie aus den 1980er-Jahren auf die journalistische Ausbildung anwenden, derzufolge damals aus Musikwissenschaft das Spezialfach mittelalterliches Flötenspiel zu werden hatte.


Es wird darum gestritten, ob Storytelling oder Corporate Publishing mit dem Sonderbeschäftigungsbereich Native Advertising die besseren Jobs im Journalismus der Zukunft sichern, und ob nicht doch Content Delivery die hauptsächliche Ausübungsform in diesem Gewerbe sein wird.


Vergessen wird in allen diesen Diskussionen vollkommen, dass der Journalismus nur dann eine Zukunft hat, wenn wir Journalisten unsere Arbeit handwerklich sauber erledigen. Dabei müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, dass die Aufgabe heißt: Die journalistische Wächterfunktion wahrnehmen! Denn damit hat uns diese Gesellschaft beauftragt.

Diese Aufgabe hat viele Aspekte, stellt hohe Herausforderungen und setzt eine ganze Menge methodisches Wissen, aber auch enorm viel Leidenschaft für die Wahrheit voraus, für das System der Checks & Balances, auf dem rechtsstaatliche Verfasstheit beruht, und für diese demokratisch organisierte Gesellschaft.


Das ist zweifellos unangenehmer, als sein Heil in neuen Bindestrich-Journalismen à la mittelalterlichem Flötenspiel zu suchen, denn es geht einher mit vielen Anfeindungen, extrem viel Fleißarbeit und hartem Ringen um die richtigen Worte. Die Zukunft des Journalismus liegt ganz einfach darin, dass Journalisten endlich wieder die ihnen übertragene Wächterfunktion wahrnehmen. So einfach ist das!


Investigativer Journalismus als Krisensignal

Wir müssen den Modebegriff eines „investigativen Journalismus“ bereits als ein Krisenzeichen verstehen. Denn sein Entstehen ist ein deutliches Zeichen, dass Recherche als journalistische Methode es schwer hat im deutschen Journalismus. Die Wortwendung von der „investigativen Recherche“ wurde hier erfunden, um das systematische und methodengeleitete Suchen und Verifizieren von Daten, Informationen, Erkenntnissen im journalistischen Gewerk eigens zu adeln.


Viele Lokalzeitungen leisten sich recherchierende Journalisten schon lange nicht mehr. Die verdeckte Recherche gilt nicht wenigen als halbseidenes Gewerbe, und die Zusammenarbeit mit Informanten aus Behörden, Unternehmen und Organisationen als semi-kriminell. Auf der anderen Seite feiern einige Kollegen (Kolleginnen sind hier zumeist wesentlich zurückhaltender) schon einfachste Recherche-Tätigkeiten wie das Befragen einer zweiten Quelle als investigative Superleistung und tragen somit auch gehörig zum schrägen Bild der Recherchetätigkeit von Journalisten in der Öffentlichkeit bei. Wenn dann die einfache Tatsachenüberprüfung schon als „superinvestigativ“ ausgeschmückt wird wie ein hochdramatischer Thriller, wenden sich viele Leser, Hörer und Zuschauer nur noch kopfschüttelnd ab.


Auch in einigen öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten konnten wir während der vergangenen Jahre beobachten, dass die Recherchemöglichkeiten massiv abgebaut worden sind. Teilweise sind Fachredaktionen aus Kostengründen oder aus einem völlig falsch verstandenen vorgeblichen Crossmedia-Ansatz einfach abgeschafft worden. Recherche wurde nicht mehr so richtig praktiziert. Als diese peinliche Tatsache dann vor einiger Zeit durch massive Beschwerden vor allen Dingen frei arbeitender Wissenschaftsjournalisten zunehmend öffentlich diskutiert wurde und auch wenig journalismusaffine Funkhaushierarchen sich dieser aufgezeigten Fehlentwicklung nicht mehr verschließen konnten, wurden in einigen Medienhäusern sogenannte „Investigativ-Ressorts“ als reine Alibi-Funktion eingerichtet.


Geld verdienen lässt sich mit affirmativer Kommunikation und Berichterstattung, die die herrschenden Strukturen verfestigen hilft. Kritischer Journalismus stellt Machtstrukturen in Frage.


Weil kritischer Journalismus aber nur auf Dauer ausgeübt werden kann, wenn kritische Journalisten ihren Lebensunterhalt damit bestreiten können und wenn kritische Journalisten die finanziellen Möglichkeiten haben, um ihre aufwändigen Recherchen betreiben zu können, scheint das Kalkül der großen Koalition für affirmative Kommunikation auch aufzugehen. dass es bald keinen kritischen der Wahrheit verpflichteten Journalismus mehr geben wird, wenn dessen Geschäftsgrundlage und dessen Geschäftsmodell abgeschafft werden.


Doch es gibt eine Gegenbewegung. In Blogs und Podcasts, auf Twitter und Nachrichtenportalen hat sich dieser kritische und der Aufklärung verpflichtete Journalismus etabliert. Allerdings kann kein hier tätiger Journalist von dieser Tätigkeit leben. Und darin liegt das eigentliche Problem.


Dem Journalismus 1.0 wird derzeit bis auf wenige Ausnahmen die Geschäftsgrundlage durch die große Koalition affirmativer Kommunikation entzogen. Deshalb transformiert er sich in den Journalismus 2.0. Doch der hat noch keine Geschäftsgrundlage entwickeln können.


Deshalb leben wir gerade in einer spannenden, aber auch gefährlichen Zeit. Wenn der kritische aufklärerische Journalismus überleben will, muss er als Journalismus 2.0 ein Geschäftsmodell entwickeln. Schafft er das nicht, hat die große Koalition der affirmativen Kommunikation gewonnen. Der kritische Journalismus, die Demokratie und diese Republik, sie alle brauchen tragfähige Geschäftsmodelle für den Journalismus. Es wird Zeit, dass wir anfangen, solche Modelle nachhaltig zu entwickeln und zu betreiben.


Die Medienkonvergenz verändert die Arbeitsbedingungen von uns Journalisten enorm. Das bietet Chancen, aber auch Gefahren, wenn Total-Buy-Out-Verträge uns Kreativen die Luft zum Atmen und die wirtschaftliche Basis zu Arbeiten nehmen. Im Online-Journalismus bahnt sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft aus Edelfedern und Content-Schubsern an – das sollte abgewendet werden.


Crossmedia ist kein Selbstzweck

Der immer noch löchrige Informantenschutz und die Lieblingsvorstellung so mancher Sicherheitspolitiker, die gern überwachte Journalisten durch die angestrebte Vorratsdatenspeicherung hätten, tun ihr übriges. Tarifpolitik, Medienpolitik, Gesellschaftspolitik kommen zusammen bei der Frage: Hat der professionelle Journalismus noch eine Zukunft?“

Er hat nur eine, wenn wir offensiv für den professionellen Journalismus streiten.


Statt crossmediale Konzepte zu entwickeln, stolpern zu viele von einer hektischen Online-Aktivität zur nächsten Social-Media-Blase. Wenn die dann geplatzt ist, lassen sie sich von selberernannten Beratern in die nächste Medienmanagement-Wolke schubsen. Dass aber die Leser, Hörer und Zuschauer keine bunten Social-Media-Häppchen und Instant-Informationsbröckchen wollen, sondern solide recherchierte journalistische Produkte, wird dann im Eifer des Gefechts übersehen.

Es wird Zeit, dass alle Medienschaffenden sich mit einer grundlegenden Erkenntnis auseinandersetzen: Crossmedia verändert unseren Arbeitsalltag dramatisch, aber nicht den Journalismus mit seiner Wächterfunktion.


Das journalistische Handwerk wird industrialisiert

Und darauf müssen wir Einfluss nehmen. Neue Redaktionssysteme und Produktionssysteme kommen auf uns zu. Wenn wir uns diese Systeme von Verlegern und Hierarchen in den Funkhäusern vorsetzen lassen, lassen wir uns Arbeitsbedingungen diktieren, die niemand von uns haben will. Dann lassen wir einen Discount-Journalismus zu, der mit Sicherheit dazu führt, dass der professionelle Journalismus keine Zukunft mehr.


Wir stehen in einem ausgesprochen spannenden Industrialisierungsprozess in unserer Branche. Da hilft es nichts, von den guten alten Zeiten zu träumen. Wir müssen uns aktiv an der Gestaltung dieses Prozesses beteiligen. Wer sich dieser Entwicklung einfach verweigert, hat sich aus der Entwicklung ausgeschlossen.


Wenn ich dann großes Erstaunen darüber höre, wie über Verwertungsrechte und massive Änderungen am Urheberrecht bereits plötzlich in Tarifverhandlungen gestritten wird, dann bleibt nur eine Analyse: Wir haben in unseren berufspolitischen Strategien offenbar den Paradigmenwechsel im Journalismus verschlafen.


Wenn wir nicht endlich ein für Autoren akzeptables Leistungsschutzrecht realisieren, wenn wir Urheberrechte nicht dauerhaft absichern und effizient schützen, dann lassen wir uns als Urheber und Autoren enteignen. Solche Industrialisierungsprozesse kennen wir aus der Geschichte. Aber müssen wir Journalisten denn alle Irrtümer der Geschichte immer wieder wiederholen, nur weil wir so bedeutende Publizisten sind, dass wir nicht aus der Geschichte lernen wollen?

Hinter dieser gesamten Entwicklung steckt auch eine tiefe Verunsicherung vieler Journalisten. Die äußert sich zum Beispiel darin, dass sich viele nicht mehr an die lebensweltliche Fundierung von Geschichten trauen, weil sie keinen Zugang zu den philosophischen Grundlagen des Erzählens finden.


Die beginnen übrigens immer mit dem Erstaunen. Erstaunen aber verunsichert. Und darauf wollen sich zu viele Journalisten nicht einlassen. Außerdem ist es anstrengend, vom Erstaunen zu einer gelingenden Dramaturgie zu kommen. Sie wollen sich diese Auseinandersetzung einfach nicht zumuten. Stattdessen bleiben sie lieber beim leichter verdaulichen zeitgeistigen und weitgehend unbestimmten „Storytelling“. Das ist jammerschade!


Wir sind wirklich in einem verrohten Gewerbe, in dem Humanität, menschliches Mitleiden vom Warencharakter der Nachrichten über das Leid verdrängt werden. Die Oberflächlichkeit und das Verdrängen dessen, was wirklich wichtig ist im Leben, sind in keinem anderen Gewerk so stark ausgeprägt wie im Journalismus. Die Spikes an den Ellenbogen, die man braucht, um sich seinen Weg durch das alltägliche Geschäft zu bahnen, fallen vielen nach einigen Jahren in diesem Gewerbe schon gar nicht mehr auf.


Maßlosigkeit verursacht die Krise

Diese Situation müssen wir ändern. Und das kann nur gelingen, wenn wir uns klar machen, dass rücksichtsloser Journalismus nichts mit gutem Journalismus zu tun hat. Die wirklich guten Geschichten, das waren in meinem Reporter-Dasein die Geschichten, bei denen ich den Menschen ganz nah war. Ich schildere ein Beispiel, das schon 30 Jahre zurückliegt.

In Armenien habe ich über Krieg und Katastrophe aus Leninakan berichtet, so hieß die Stadt damals. Eine alte Armenierin sprach mich am Abend an, als wir ins Ausländercamp zurückgekehrt waren, der Kameramann und ich. Sie konnte ein wenig Deutsch, weil ihr Sohn vor dem Krieg nach Deutschland geflohen war. Deshalb hatte sie Deutsch gelernt, um verfolgen zu können, wo er lebte und was um ihn herum geschah.


Die alte Frau sagte mir: Sie sind hier, weil Ihnen unser Schicksal nicht gleichgültig ist. Man merkt an der Art, wie ein Journalist arbeitet, ob ihm die Menschen wichtig sind, über die er berichtet, oder ob sie nur Mittel zum Zweck sind.“

Wir unterhielten uns ungefähr eine halbe Stunde, warum mir die Menschen wichtig sind, über die ich berichte, warum ich über jeden, der stirbt in einem Krieg, wirklich tiefe Trauer empfinde. Da waren die alte Frau und ich. Jedem war am Du gelegen. Es gibt diese Lust auf Erkenntnis, die aus Besorgnis um den anderen entsteht, weit weg von der ansonsten empfundenen beruflichen Neugier.


Die Krise des Journalismus hat zu tun mit der Krise der europäischen Kultur als einer Krise der Orientierung, der Haltungen und der Werte. Verursacht worden ist diese Krise durch Maßlosigkeit. Es handelt sich dabei um dieselbe Maßlosigkeit, die das neoliberale Ziel grenzenlosen Wachstums als innere Triebfeder zum höchsten gesellschaftlichen Wert machen will. Diese Maßlosigkeit ist inhuman, weil die zwischenmenschlichen Werte des Humanen auf der Strecke bleiben.

Deshalb brauchen wir Journalisten eine Rückbesinnung auf die Grundlagen einer wertgebundenen journalistischen Arbeit. Ausgehend vom Konzept der sittlichen Würde begründet der wertgebundene Journalismus die Voraussetzungen einer freiheitlichen Ordnung, die dem Einzelnen Selbstentfaltung in Verantwortung erlaubt. Er sieht seine vornehmste Aufgabe darin, politische und gesellschaftliche Entwicklungen auf diese Voraussetzungen hin zu prüfen.

Darin liegt die grundlegende Wächterfunktion des Journalismus.


Jede journalistische Moral, gleichgültig, welche konkreten politischen oder sonstigen weltanschaulichen Vorstellungen sie ausprägen, muss mutig der reaktionären Flucht in die Unmündigkeit und dem Ausblenden der ethischen Dimension politischen, gesellschaftlichen – und somit auch journalistischen – Handelns entgegentreten. Der wertgebundene Journalismus fordert die ständige Umsetzung der Idee der Freiheit der Meinung in allen Bereichen unserer Gesellschaft.


Menschenwürde und verantworteter Journalismus

Gegenwärtig argumentieren wir viel zu oft mit Nützlichkeitserwägungen. In den medienethischen Debatten haben wir Journalisten es sogar zugelassen, dass die Diskussion viel zu stark von Nützlichkeitserwägungen aus der Politik bestimmt wird. Wir müssen die Nützlichkeitserwägungen wieder dorthin bringen, wo sie hingehören: in den Bereich bloßer taktischer Erwägungen.


Wer aber nur mit taktischen Erwägungen Journalismus machen will, muss scheitern. Die Leser, Hörer und Zuschauer haben ein Recht auf die ethische Grundlegung journalistischen Handelns, und die Menschen fordern dies zu Recht ein. Aber wir Journalisten haben uns an dieser Stelle viel zu oft der Rechenschaft für unser Tun verweigert.

Wir haben uns stattdessen auf bloße Nützlichkeitserwägungen zurückgezogen. Das hat tiefreichende gesellschaftliche und auch ökonomische Ursachen. Den Mangel als ökonomisches Prinzip akzeptieren wir und leiten daraus Nützlichkeitserwägungen ab.


Dann aber erfolgt ein Denkabbruch, den wir überwinden müssen, weil hier eine wesentliche medienphilosophische Grundlage unseres Berufs liegt. Und diese Grundlage lässt sich am ehesten als verantworteter Journalismus beschreiben, der geleitet wird durch das Prinzip der sittlichen Würde des Menschen. Ein solcher verantworteter, reflektierter Journalismus begründet eine journalistische Profession und Professionalität, die diesen Namen auch verdient und ihrer Wächterfunktion gerecht wird.


Das aber erfordert Mut.


Über den Autor

Peter Welchering (*1960) arbeitet seit 1983 als Journalist für Radio, Fernsehen und Print (u.a. Deutschlandradio, ZDF, verschiedene ARD-Sender, FAZ) und hat verschiedene Lehraufträge an Journalistenschulen. Welchering ist zertifizierter Trainer im Journalismus (KfJ) und hat viele Volontäre ausgebildet. Er hat Philosophie studiert und meint, dass ihm das dort erworbene Rüstzeug bei seiner journalistischen Arbeit an der Schnittstelle von Politik und Informationstechnik durchaus hilft. Er ist gewerkschaftlich organisiert und hat sich vier Jahre lang als Mitglied des Deutschen Presserates frustrieren lassen.


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